Wie fragil die globalisierte Wirtschaftsweise ist, bekommen wir in Zeiten des Ukraine-Krieges überdeutlich vor Augen geführt. „Decoupling“ ist der neue Trend, der das Ende der Globalisierung bedeuten könnte. Mit weitreichenden Folgen für Anlegende.

Globalisierung war die Zauberformel für das Wohlstandswachstum in den westlichen Industrienationen seit den 1970er Jahren. Waren und Teilerzeugnisse wurden seither zunehmend in Wirtschaftsregionen produziert, in denen die (Lohn-)Kosten günstig waren. Effizienz und Kostendegression machten immer mehr Produkte für immer mehr Menschen erschwinglich. Vor allem die Kostendegression führte zudem zu deutlich steigenden Gewinnen und somit auch Investitionsfähigkeit der produzierenden Wirtschaft.

Dahinter organisierte sich eine globalisierte Wirtschaftswelt. Zur Produktion an kostengünstigen Standorten gehört ein weltumspannendes Netz von Lieferketten und damit auch Logistik und Transport. Mit der Entwicklung hin zur Just-in-Time-Produktion wurden weitere Effizienzpotenziale gehoben, da die Lagerhaltungskosten gesenkt wurden: angeliefert wird, wann und wo es im Produktionsprozess gebraucht wird. Allerdings: Das System ist fragil, wie sich schon in Zeiten der Pandemie gezeigt hat, aber nun aktuell verschärft zutage tritt. Wenn die Zulieferer für Kabelbäume aus der Ukraine nicht mehr liefern, stehen in München, Wolfsburg oder Sindelfingen bei BMW, VW und Mercedes die Bänder still.1 Phänomene wie diese verschärfen die Probleme beim Wiederhochfahren der Wirtschaft nach der Pandemie – dabei waren die Lieferketten in fast allen Branchen schon seinerzeit massiv durcheinandergeraten.

Paradigmenwechsel: Von der Effizienz zur Resilienz

Immer mehr Regierungen und Unternehmen suchen nach neuen Wegen und nach Möglichkeiten, Abhängigkeiten zu reduzieren. Unternehmen erhöhen nun wieder die eigene Fertigungstiefe, um die Produktion zuverlässiger kontrollieren zu können. Viele Staaten Europas arbeiten zum Beispiel fieberhaft an Lösungen für mehr Energieautonomie.

In Deutschland etwa ist das Thema der Reduktion der Abhängigkeit vom russischen Erdgas nicht nur in aller Munde, sondern politischer Auftrag.

Was sich da vollzieht, ist nicht weniger als ein Wechsel des Paradigmas. Während über Jahrzehnte „Effizienz“ als Leitbegriff diente, tritt zunehmend der Begriff der „Resilienz“ an seine Stelle. Die Widerstandsfähigkeit eines Unternehmens und ganzer Volkswirtschaften gegen widrige äußere Einflüsse zu erhöhen, wird zur Kernaufgabe.

Decoupling in den Köpfen der Entscheider ganz weit vorne

Mit dem Ziel der Resilienzsteigerung wird Decoupling zum globalen Trend. Die eigenen Wirtschaftskreisläufe zu entkoppeln, steht ganz oben auf der Agenda der Regierungen in aller Welt. In Deutschland und Europa sehen wir das am schon angesprochenen Thema der sicheren Energieversorgung deutlich – für unsere an fossilen Energien arme Region ist diese langfristig nur über alternative und erneuerbare Energien zu erreichen. Schneller und radikaler konnten die USA reagieren. Hier forderte US-Präsident Biden direkt im März, dass Fracking-Firmen ihre Lizenzen ausschöpfen sollten.2 Und der steigende Ölpreis machte diese wegen ihrer Umweltfolgeschäden schon fast ad acta gelegte Fördermethode auch wirtschaftlich plötzlich wieder attraktiv.

Auch an anderer Stelle nimmt Biden den Faden der protektionistischen Politik seines Vorgängers seit längerem wieder auf: Technologisch und in der Produktion von technischen Gütern wollen die USA weniger abhängig von Importen aus Fernost werden. Heute kommen immerhin sieben der zehn größten Exportnationen von Hochtechnologie aus Asien3. Gerade China – Konkurrent um die Vormachtstellung als Nummer 1 der Wirtschaftsnationen – wird kritisch beäugt. Insbesondere die möglichen Ambitionen, Taiwan der Volksrepublik eines Tages einzuverleiben. Auch hier schlummert – unter anderem – wieder eine globale Lieferkettenproblematik. Denn Taiwan ist eine der führenden Nationen in der Halbleiterproduktion. Besonders die modernen, hochverdichteten Halbleiter in der kleinsten Strukturbreite von <10mn kommen heute oft aus dem asiatischen Land.

Halbleiter: Taiwan mit Schwerpunkt im Top-Segment
Monatliche Fertigungsrate nach Strukturbreite

-

Stand: Dezember 2020
Quelle: IC Insights / Statista, 2022.

Mit großer Mehrheit brachte US-Präsident Biden schon im Sommer 2021 ein umfangreiches Gesetzespaket durch den Senat. Es soll nicht nur die heimische Forschung in Spitzentechnologie fördern, sondern auch deren Produktion. Der Schwerpunkt Halbleiterproduktion wird darin ausdrücklich angesprochen.

Umgekehrt lassen sich schon seit Jahren Chinas systematische Anstrengungen erkennen, die eigene Wirtschaft weniger von Exporten abhängig zu machen und sich Rohstoffe zu sichern (auch ein Aspekt der „neuen Seidenstraße“). China arbeitet auch bereits an Notfallplänen, um im Falle einer Sanktion, weiterhin Zugriff auf Auslandsbankkonten zu haben. Über ein Treffen von chinesischen Regulierungsbehörden und Banken wurde Ende April berichtet.4 Überall macht man sich also bereit, die „Zugbrücken hochzuziehen“.

Eine deglobalisierte Wirtschaftswelt: Folgen für die Kapitalanlage

Eine Änderung der Rahmenbedingungen und wesentlicher Wirtschaftsparameter bedeutet nicht nur Unsicherheit, weil Dinge nicht mehr einfach so weiterlaufen wie bisher. Jede Veränderung birgt auch Chancen für alle, die Kapitalanlagen verantworten oder Ihren Kunden empfehlen. Um diese Chancen zu erkennen ist es hilfreich, sich mögliche langfristig wirksame Entwicklungstendenzen vor Augen zu führen, die aus der deutlichen Verminderung der globalisierten Wirtschaftsweise resultieren könnten. Hier ein paar diskutable Thesen als Anregung zum eigenen Nachdenken – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

Inflation: Preisauftriebskräfte weiter unterstützt

Sollte sich die Tendenz zur Deglobalisierung fortsetzen, dürfte einer der wichtigsten Effekte die Umkehrung der Verbraucherpreisdämpfung sein. Wenn Resilienz höher bewertet wird als Effizienz, steigen die Kosten entlang der neu gestalteten Wertschöpfungsketten in der Produktion. Eine dauerhafte Unterstützung des Preisauftriebs wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit die Folge. Immer weniger könnte daher mit Inflation als vorübergehendem Phänomen gerechnet werden. Portfolios von Anlegern darauf einzustellen, wird dann eine der wesentlichen Aufgaben von Beratung bleiben. Dazu gehört auch die Überzeugungsarbeit, dass es selbst in der Spätphase eines Konjunkturzyklus und auch wenn Stagnation in einigen Volkswirtschaften drohen mag, keine echte Alternative zu Aktien gibt. Denn unter den großen Anlageklassen bieten nur sie bei geeigneter Schwerpunktsetzung wenigstens die Möglichkeit, dem realen Kaufkraftverlust angelegten Kapitals durch Renditen oberhalb der Inflationsrate entgegenzuwirken.

Unternehmen: Wachstumspotenziale und Qualität neu bewerten

Die Gewinner der Globalisierung müssen nicht die Helden der Deglobalisierung sein. Investoren aber besonders auch aktive Fondsmanager werden sich Bilanzen und insbesondere die Geschäftsmodelle von Unternehmen genau ansehen und gegebenenfalls auch zu neuen Einschätzungen gelangen: Sind Wachstumspotenziale noch im angenommenen Umfang valide? Oder müssen die Ansprüche zurückgeschraubt werden, weil im Gegenzug sich ein Teil der globalen Absatzmärkte selbst stärker abschottet? Sind Margen und Gewinne eines Unternehmens zu halten, wenn die Produktionskosten nicht mehr großteils durch Billiglöhne definiert werden?

Eine solche Überprüfung birgt aber auch neue Chancen für die Kapitalanlage: Wem es gelingt, für seine Anlegerkunden aktiv Portfolioschwerpunkte auf Wertpapiere von Unternehmen zu setzen, die den Wandel von der Effizienz zur Resilienz schneller und nachhaltiger vollziehen, könnte langfristig davon profitieren. Denn Unternehmen, die sich gegen exogene Schocks besser absichern als andere, stabilisieren so ihre Ergebnisse und entfalten perspektivisch höhere Attraktivität für Anleger.

Wirtschaftsräume: Absatzmärkte und Ressourcen

Wenn sich ganze Wirtschaftsräume gegeneinander abschotten, kommen für deren langfristige relative Entwicklung wichtige Kenngrößen ins Spiel. Welche Absatzmärkte öffnen sich in einem Wirtschaftsraum tätigen Unternehmen, ohne an Währungs- oder Zollgrenzen zu stoßen? Welchen Zugang haben die Wirtschaftsräume zu Rohstoffen und Energie, die für ihre wirtschaftliche Entwicklung bedeutend sind?

Der „EU-Aktionsplan zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums“ kann zum mitentscheidenden Baustein für die wirtschaftliche Zukunft unseres Kontinents werden. Denn Ressourcen und Energie sind zumindest in einer fossil geprägten Wirtschaft knapper als in anderen Weltregionen. Der Innovationsdruck, die benötigten technologischen Lösungen zu schaffen, liefert die Basis für neue Wachstumsfelder. Die USA verfügen über mehr natürliche Ressourcen, sind somit als Industrienation autarker. China hat noch 2020 mit RCEP eine gigantische asiatische Freihandelszone initiiert – die größte der Welt. Damit entsteht ein riesiger, weitgehend homogener Absatzmarkt.

Als Berater wird man in den nächsten Jahren genau beobachten müssen, wie sich die einzelnen Regionen relativ zueinander entwickeln. Tendenziell können sich bei zunehmendem Decoupling die Wirtschaftsentwicklungen regional noch stärker unterscheiden als bisher. Mehr denn je gewinnt daher die geografische Diversifikation und Schwerpunktsetzung in Anlegerportfolios an Bedeutung.

Gute Aussichten: Weniger Dominoeffekte und globale Krisen?

Starke wechselseitige Wirtschaftsbeziehungen bilden eine Basis gemeinsamer Interessen und wirken moderierend auf der politischen Ebene. Mit der wirtschaftlichen Entflechtung des Decoupling könnte damit das Risiko politischer Konfrontation und nachfolgender Krisen wieder steigen.

Doch es gibt auch die positive Kehrseite dieser Medaille. Wenn sich Volkswirtschaften und Unternehmen von exogenen Faktoren unabhängiger machen, könnte auch das Risiko für globale Wirtschaftskrisen sinken. Die größere Autarkie der Wirtschafsregionen könnte dazu beitragen, dass sich lokale oder regionale wirtschaftliche Krisen besser begrenzen lassen.

Decoupling ist also nicht das Ende erfolgversprechender Investmentchancen. Es ist vielmehr der Anfang einer Welt, die neuen Paradigmen folgt und neue, andere Chancen für Anleger eröffnet. Wer seine Kunden in der Beratung mit wachem Blick auf die Rahmenbedingungen begleitet, kann ihnen helfen, aktiv die richtigen Schwerpunkte im Portfolio zu setzen.

Quellen:

1Handelsbaltt.com, 15.03.2022
2Nzz.ch, 12.03.2022
3Germany Trade & Invest, gtai.de, 12.01.2022
4Financial Times, ft.com, „China meets banks to discuss protecting assets from US sanctions“, 01.05.2022

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